Furcht und Sehnsucht
Jetzt ist sie wieder da, diese Jahreszeit, da die letzte Farbenpracht der Natur den kahlen Bäumen und Sträuchern gewichen ist, die bisweilen gespensterhaft das Landschaftsbild prägen. Etwas Bedrohliches, so wie wir es aus von trüber Melancholie geprägten Gemälden von Caspar David Friedrich kennen. Sehnsucht nach einer heilen Welt.
Und diese Sehnsucht empfinden auch wir, immer stärker. Dem Klimawandel müssen wir Rechnung tragen. Nach der Epidemiephase hofften wir dennoch auf eine Rückkehr zur Normalität – weg mit den Teuerungsängsten; nur wurde dieser Wunsch durch Putins Angriffskrieg zunichte gemacht, und als ob es nicht genug wäre, kam dann auch noch der Terroranschlag der Hamas. Und da Gewalt oft neue Gewalt auslöst, stecken wir zu dem Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, mitten in der Angst vor Terror- und Kriegsausweitung und hoffen doch auf Besserung der Lage, ja auf Frieden.
Gerade hat der Ende des letzten Jahrhunderts und dann der seit Covid rasant sich ändernde Wertwandel zu einem bisher nie gekannten Narzissmus geführt, einem gewissen Abwenden von Werten wie Gemeinwohl, Sorge um den Nächsten, Engagement. Als ob es genügte, um das perfekte Glück zu finden, nur diese Ratgeber zu lesen, die in 12 Lektionen den Weg ins Glück lehren. Lassen wir uns nicht von dem neuen Glücksrausch ergreifen, den Luc Ferry in seinem Anfang Oktober erschienen Buch „La Frénésie du bonheur“ beschreibt. Er zeigt hier, wie unsere Gesellschaft immer mehr von einem später zu erwartenden Glück abrückt und dieses Glücksgefühl sofort will, ohne Rücksicht auf alle anderen; man selbst steht im Mittelpunkt, ist Schmied seines eigenen Glücks, so wie im Stoizismus, beim Dali Lama. In der „positiven Psychologie“ und Persönlichkeitsentwicklung ist Schluss mit Verzicht, mit Nächstenliebe und Warten auf eine bessere Zukunft. Endlich „Narziss werden“, so lautet das Motto! Alles sofort haben, nur das eigene Ich zählt noch. Und somit ist Schluss mit Hoffnung, Vertrauen, Nächstenliebe und all dem, was dazu gehört.
Dieser Weg ist aber eine Sackgasse. Wir stecken momentan in einem Spannungsfeld zwischen Furcht, Angst, Verzweiflung, ja einem Gefühl der Machtlosigkeit und der Sehnsucht nach einem Ende all des Schreckens und sinnlosen Sterbens. Wir suchen nach einem Weg aus dieser Dunkelheit, dürsten nach mehr Helligkeit, ja nach dem strahlenden Licht, den wir aus eigener Kraft nicht finden werden.
Wir sind nicht die Ersten, die so etwas erfahren. Denken wir doch nur an die Zeiten, da die deutschen Lande von Seuchen und Kriegen heimgesucht waren und es Dichtern wie Paul Gerhard gelang, die Zuversicht und Vertrauen in Gottes Versprechen zu bezeugen.
Ein anderer Repräsentant einer solchen Epoche ist J.S. Bach, der mit seiner Kunst uns alle Höhen und Tiefen sowohl der menschlichen als auch der göttlichen Existenz entdecken und erleben lässt, von tiefster Trauer bis höchstem Jubel, in allen Tonarten. Ich denke hier an zwei seiner Kantaten, von denen die eine für die Niedergeschlagenheit, Trauer und Verzweiflung unserer Zeit steht, die andere hingegen in der Reflexion, der Hoffnung und der Freude auf das kommende Bessere.
Auf der einen Seite die Kantate Aus tiefer Not schrei ich zu Dir (BWV 38) und auf der ganz anderen die Kantate Nun komm der Heiden Heiland (BWV 61).
In dem 4- bzw. 5-strophigen Choral von Martin Luther (Ev. Gesangbuch 299), geht es um die unverdienbare Gnade – eigentlich eine Erklärung der Rechtfertigungslehre. Da wir mit unserem Tun, egal in welcher Lage wir stecken, nichts erreichen werden, bleibt uns nichts als dem Wort Gottes zu vertrauen, dem Wort, das er gegeben, glauben.
Aus tiefer Not schrei' ich zu dir,
Herr Gott, erhör' mein Rufen,
Dein gnädig' Ohren kehr zu mir,
Und meiner Bitt' sie öffnen!
Denn so du willst das sehen an,
Was Sünd' und Unrecht ist getan,
Wer kann, Herr, vor dir bleiben?
Total erfrischend das Pendant der Adventszeit: Strahlender Jubel, Trompeten kündigen die Ankunft eines Königs. Dieser Text von Luther beruht auf einem altkirchlichen, aus dem 3. Jhd n. Chr. stammenden Hymnus: „Veni redemptor gentium“ des Mailänder Bischofs Ambrosius. Komm, Du Heiland aller Völker, alle Welt soll sich wundern, dass Gott eine solche Geburt angeordnet hat. Bach zeigt die Ankunft des Königs – und dies in Form einer französischen Ouvertüre – so, wie es zu Zeiten Ludwig des XIV. hätte sein können. In den 8 Strophen von Luthers Choral erleben wir die ganze Heilsgeschichte. Zuversicht und Hoffnung werden in der 7. Strophe ausgedrückt.
Dein Krippen glänzt hell und klar,
die Nacht gibt ein neu Licht dar.
Dunkel muss nicht kommen drein,
der Glaub bleib immer im Schein.
Das neue Licht ist da, wir dürfen Hoffnung schöpfen. Gott kommt uns ganz nah, Vertrauen dürfen, ja sollen wir schöpfen. Gott kommt uns doch so nah, wie nur Eltern ihren Kindern nah kommen können. Jesus redet Gott mit Vater an, und so lehrt er uns im Vaterunser, ihn als Vater anzureden, ein liebender und verzeihender Vater.
Den ganz großen Jubel lässt Bach in seinem Weihnachtsoratorium erschallen. Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage, so die Worte des Eröffnungschores des Weihnachtsoratoriums, das am 2. Advent in unserer Kirche erneut erklingen wird. Pauken, Trompeten, Oboen und Violinen u.a. schaffen dann diese so tief das Gemüt ergreifende Weihnachtsstimmung.
Ich kann verstehen, dass manchen von uns da Zweifel beschleichen. Dürfen wir denn in dieser von Katastrophen und Kriegen geplagten Zeit, da Tausende und Abertausende auf der Flucht sind oder auch sterben müssen, überhaupt feiern, uns amüsieren? Grundsätzlich sage ich hierzu ja. Wen der ganze Weihnachtsrummel stört, braucht ihn ja nicht mitzumachen und kann so Ruhe zur Besinnung finden. Wir dürfen beides: besorgt und verängstigt sein und uns des Lebens erfreuen. Versuchen wir, diese Angst, die momentan unser Alltagsleben vergiftet und uns immer wieder beschleicht, zu überwinden, durch Zuversicht, Lebensfreude und mit Beständigkeit. Hierzu heißt es bei Timotheus 1,7: „Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Die Furcht ist besiegbar, und das wird uns in der Bibel an ganz vielen Stellen gesagt. Fürchte Dich nicht!
Kinder haben diese Furchtlosigkeit und das blinde Vertrauen in ihre Eltern. Versuchen wir doch, so wie sie diese Weihnachtszeit zu erleben. Machen wir aus dieser Pause einen Moment, in dem wir uns als Gottes Kinder fühlen dürfen, wagen wir es doch mal wieder, wie in unserer Kindheit zu sein, werden wir gelassen und freuen wir uns an dieser weihnachtlichen Stimmung und haben wir keine Angst, wenn das auch mal in Kitsch abzurutschen droht, und verinnerlichen wir dieses „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden“ und hoffen, dass dieser Gesang der Engel taube Ohren und verstockte Herzen öffnen möge.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine zuversichtliche Adventszeit und ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Ihr Christian Ritter
Vorsitzender des Kirchenvorstands