Im Jahre 2022 wurde der Begriff „Zeitenwende“ zum Wort des Jahres gekürt. Ursprünglich wurde dieses Wort für den Beginn der christlichen Zeitrechnung gebraucht, steht dann aber seit den 1920er Jahren für jede neue Ära. Und dies war dann auch 2022 der Fall mit der Corona-Pandemie, dem russischen Angriffskrieg, der Wirtschafts- und Energiepolitik. Leider war dann mit den dadurch entstandenen Ängsten nicht Schluss. Neue Widrigkeiten kamen hinzu. An Fake News, sprachliche Entgleisungen und brutalen Umgang miteinander hatten wir uns langsam gewöhnt. Dass aber die demokratischen Gepflogenheiten über den Haufen geworfen wurden, ließ Zweifel an unserer Demokratie, an unserer Werteskala entstehen, Orientierungslosigkeit, Angst vor Populismus, Ratlosigkeit und Resignation. Verschlimmert wurde dies dann noch durch die Abkehr der USA von unseren westlichen Werten, hin zu einem imperialistischen Regierungsstil.
Dürfen wir, können wir das alles so stehen lassen? Die ständig wachsende Unsicherheit, Ängste und Hoffnungslosigkeit – können wir dagegen angehen? Ja, möchte ich hierzu sagen. Die gerade begonnene Fastenzeit gibt uns hierzu Gelegenheit. Es gibt die verschiedensten Arten des Fastens; Fasten ist nicht unbedingt mit Nahrungsaufnahme verbunden.
Im Alten Testament ist das Fasten die Möglichkeit des Menschen, sich leichter um die spirituellen Dinge des Lebens zu kümmern, statt sich von Weltlichem ablenken zu lassen. Schon damals herrschte die Meinung, so könne man Gott zwingen, die eigenen Wünsche ernst zu nehmen. Luther wandte sich gegen die damalige Meinung, der Mensch könne durch Fasten Gott gefallen. Für ihn waren hierbei nicht die quantifizierbaren, sondern die inneren Werte wichtig. Fasten ist für ihn so etwas wie ein individuelles Trainingsprogramm, das jeder seinen Bedürfnissen anpassen sollte. Sowohl Luther als auch Calvin waren gegen die Einstellung, dass man durch Fasten Sündenvergebung und somit den Himmel erwerben könnte.
Fastenzeit sollte nicht so sehr eine Einschränkung der Nahrung sein, sondern eher die Möglichkeit einer Introspektion und Meinungs- und Haltungsänderung. Sie ist eine Zeit, die uns die ganz besondere Möglichkeit gibt, zuzuhören, nachzudenken, in uns zu gehen, unser Verhältnis zu Gott mit seinen Erwartungen an uns zu überdenken. Prüfen wir so doch unser Verhalten zu unseren Mitmenschen – was können wir verändern, um uns frei zu fühlen? Beten ist hier eine Möglichkeit. Beten muss nicht in einer bestimmten Form stattfinden. Für mich ist das Gebet Nachdenken, Reflektieren und Meditieren, Klagen und Hadern, ja ist Zwiesprache mit Gott.
Hier haben wir die Gelegenheit, über den augenblicklichen Zeitgeist nachzudenken, uns über unsere Ängste klar zu werden, zu sehen, wie wir mit ihnen umgehen können. Um Lebensangst zu überwinden, ist es ganz wichtig, dass wir wieder lernen, Hoffnung zu haben, meint Ernst Bloch. Um dies zu erreichen, müssen wir die Fähigkeit zurückgewinnen, mit der Angst umzugehen.
Unser so wortgewaltiger Reformator Luther wurde häufig von Ängsten geplagt, hat es aber gelernt, mit diesen umzugehen. Der erste Schritt bestand darin, dass er durch seine Beschäftigung mit der Bibel lernte, seine Angst vor Gott auszusprechen. „Ich schütte meine Klage vor ihm aus und zeige vor ihm an meine Not.“ (Psalm 142, 3) Eine solche Bewusstmachung kann der erste Schritt aus der Angst sein. Um sie zu überwinden, muss man ihr ins Auge sehen. Luther stellte diese Angst mitten in seinen Glauben und gab ihr Ausdrucksformen. Die vielen Trostworte aus der Bibel, die ermutigen, mit unseren Ängsten zu Gott zu kommen, versteht er dann als die Zusicherung der Liebe und Gnade Gottes, die er dann auch ganz für sich in Anspruch nimmt. Die zahlreichen Bibelstellen, die im gekreuzigten Christus die Gottesnähe gegenüber den Verlorenen zeigen, geben ihm Kraft, seine Ängste zu überwinden, was er in seiner Magnificat-Auslegung von 1521 folgendermaßen ausdrückt:
„In die Tiefe will niemand sehen, wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist, da wendet jedermann die Augen von ab. Darum sieht Gott allein in die Tiefe, Not und Jammer und ist nah allen denen, die in der Tiefe sind. So hat er auch seinen einigen liebsten Sohn Christum selbst in die Tiefe allen Jammers geworfen und an ihm vortrefflich gezeigt sein Sehen, Werk, Hilfe, Rat und Willen, worauf er gerichtet ist.“
Auch Jesus hatte öfter Angst, diese aber im Vertrauen zu Gott überwunden. Diese Gnade Gottes ist gratis, an keinerlei Bedingung geknüpft, ist absolut, unabhängig von unserem Seelenzustand. Gottes Gnade ist nicht nur den guten und in sich gegangenen Menschen vorbehalten, sondern gilt gerade den Verängstigten und Verzweifelten. Es ist diese Gewissheit der bedingungslosen Gnade, die ihm alle Angst nimmt und ihm die Kraft für sein Tun gibt.
Mit festem Willen und Anstrengungen ist die Angst nicht unbedingt besiegbar, eher mit dem Vertrauen auf die bedingungslose Liebe des Gekreuzigten. Sein Vorbild ermöglicht es, die Angst zu erkennen, beim Namen zu nennen, sie zu bekämpfen, ja zu besiegen im Verlass auf Jesu Wort: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Johannes 16,33)
Dietrich Bonhoeffer sagt in diesem Kontext: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.“
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete Passionszeit.